Montag, 25. September 2006
Doppelter Gedenktag

Ich war ein ganz und gar ungewöhnliches Kind. Schon frühzeitig wußte ich durch übertrieben altkluges Auftreten nicht nur meine Altersgenossen zu überraschen, auch Erwachsene fanden sich aufgrund meiner geschickt & klug gestellten Fragen nach den grundlegenden Dingen des Lebens schnell an den Rand der Verzweiflung gedrängt. Ich las viel und wußte alles. Obwohl der Begriff damals noch in den Falten ungeborener Universen selig schlummerte, wurde ich schon früh zum Prototyp des Nerds.

Einerseits.

Andererseits war ich leicht zum Zorn zu reizen, nur ein höhnisches Wort und ich vergaß mich regelmäßig. Was meine geringen Körperkräfte nicht bewirkten, ersetzten Adrenalin und wutgesteuerter Impetus. Bald schon erwarb ich mir auf dem Grundschulhof einen äußerst rustikalen Ruf, der mir vor allem eines bescherte: man ließ mich in Ruhe, was ich sehr zu schätzen wußte. Es wird also nicht weiter verwundern, wenn ich überdies gestehe, bis zu meinen 15. Lebensjahr unmusikalisch wie ein Holzpfosten gewesen zu sein. Ich hatte keinerlei Interesse an allem, das da schwingt und klingt, nicht das Geringste. Zwar berichtet man mir, daß Glockenklang oder Orgelbraus einst den unleidlich greinenden Säugling schnell zu beruhigen wußten, aber das kann kaum als Ersatz für eine musikalische Haltung an sich gewertet werden, höchstens als Vorgriff auf spätere Interessen an frommen Dingen und der Gotteskunde.

Dann aber, im Sommer neunzehnhundertneunundsiebzig, ereignete sich etwas. Zu dieser Zeit war ich Zögling eines in Trägerschaft der Evangelischen Landeskirche Westfalens befindlichen Internates, der Ev. Landesschule zur Pforte zu Meinerzhagen, dessen kurze Geschichte vor knapp zehn Jahren so gründlich zu Ende ging, daß im vergangenen Frühjahr der ganze Komplex abgerissen wurde und heute nur noch Baum und Strauch den Hügel zieren, auf dem ich fünf Jahre meines Lebens verbrachte.

Wie habe ich in den Wintern dort gefroren! Wenn die schlecht verfugten Fenster entlang der verglasten Gänge den sauerländischen Schneestürmen nicht zu trotzen vermochten und sich an den Ritzen Miniaturschneewehen bildeten (innen!), zogen wir uns einfach einen Pullover mehr über. Die Kälte war keineswegs pädagogisches Programm, die Kälte war eine Folge des maroden Heizungssystems, das bereits nach zehn Jahren schwere Leckagen aufwies, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß der Gebäudekomplex auf künstlich aufgeschütteter Kuppe thronte, wie die Fama wußte, und aufgrund des lokalklimatisch bedingten Dauerregens langsam, aber unaufhaltsam talwärts zu rutschen begonnen hatte. Auch sonst war der Aufenthalt an dieser entlegenen Stelle nur von mäßigen Reiz, für einen Rheinländer schwer erträgliche westfälische Schwermut, die hinter wirklich jeden Satz ein fragendtrotziges "woll?" anzufügen nicht versäumt.

Zwischen den Ferien durften die Internatsschüler ein- oder zweimal zu einem sogenannten Heimfahrtswochende in den Schutz der elterlichen Geborgenheit zurückkehren, schon aus kulinarischen Erwägungen war dies ein stets sehnlich erwartetes Ereignis. An einem dieser Wochenenden also, während eines verregneten Nachmittages, saß ich allein im heimatlichen Wohnzimmer, langweilte mich und hangelte mich im elterlichen Radio durch alle Sender durch und blieb schließlich hängen. Was da plötzlich aus den Boxen der Anlage drang, war völlig neu, unvermutet, noch nie gehört und traf mich wie ein Blitz ins Hirn und ins Herz. Mächtige, spätromantische Klangwellen durchrollten mein Inneres, und auf deren Wogen wurde ich davon getragen, mein Haar zerzaust im wilden Sturm und ich saß auf kleinem Boot, dessen Segel in Fetzen ging und es tanzte und sprang auf der schäumenden Gischt und ich lachte und schrie voller Begeisterung den tobenden Elementen mein Verständnis und meine Freundschaft entgegen und sie hoben mich empor und der Ozean und ich umarmten einander und wir stürzten die Brandung entlang und es war RICHTIG.

Dann erklärte eine nüchterne Stimme im Radio, man habe dem geneigten Publikum soeben die Elfte Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch zu Gehör gebracht, dargeboten vom Staatlichen Rundfunksymphonieorchester der UdSSR unter Leitung von Gennadij Roschdestwenskij.

Ich sank erschöpft zurück. Ich wußte, ich hatte eine große Liebe gefunden, und sie würde mich nie, nie mehr verlassen, sie würde bei mir bleiben alle Tage meines Lebens, durch alle Wandlungen und Veränderugen, sie würde nichts von mir fordern, sie würde mir alles schenken: die Musik. Noch am selben Tag rannte ich in einen gutsortierten Musikladen und erwarb die erste Schallplatte meines Lebens (na gut, genau genommen, waren es zwei), trug sie wie eine herrliche Beute nach Hause und legte sie mit bebendem Herzen auf, sie anzuhören.



Und da war sie wieder, diese machtvolle Musik, der ich mich sofort und abermals ausgeliefert fühlte. Ich nahm sie mit zurück nach Meinerzhagen und von dort in alle Orte, an denen ich seither gelebt habe, nie mehr war ich ohne sie, Sauerstoff für meine Seele. Andere, in den Augen der Allgemeinheit größere Titanen der Musik habe ich später schätzen und manchmal auch lieben gelernt, Bach, Beethoven, Mozart, Mahler, Strauss, Bruckner, Verdi, Puccini und wie sie alle heißen mögen und sicher sind sie alle bedeutender und wichtiger, aber mein persönlicher Hausgott ist seit jenem Sommertag vor siebenundzwanzig Jahren immer dieser scheue, zerquälte Mensch geblieben, der mich in welchem seiner Werke auch immer so sehr in mein Allerinnerstes zu treffen vermag wie niemand sonst, seien es seine hochstürmenden Revolutionssymphonien oder todtraurigen Elegien fürs Streichquartett. Weil seine Musik richtig ist.

Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wurde heute, am 25. September, vor Hundert Jahren geboren.

Und ich bin froh, mich einst an einem Nachmittag gelangweilt zu haben.

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Schöne Liebeserklärung an Dimitris Musik.

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