Donnerstag, 23. Juni 2016
Langstreckengeduld

Manche Dinge sind unwiederbringlich dahin, so wie das Internat, in dem ich fünf Jahre verbracht habe und dem ich in Haßliebe verbunden geblieben bin. Doch die Schule wurde später geschlossen und alle Gebäude um die Jahrtausendwende schließlich abgerissen. Nur noch eine grün umbuschte Hügelkuppe ist geblieben, nichts erinnert mehr an den Bau und die Menschen, die dort gelebt gaben.

Anderes dagegen kehrt manchmal wieder, Geduld und Wartezeit vorausgesetzt.

Mein Großvater war ein preußischer Offizier, kämpfte im 1. Weltkrieg und im 2. auch und überlebte beide Ereignisse unversehrt und ordenbedeckt. 1945 mußte die Familie auf Einladung der Russen das Gut in der hinterpommerschen Heimat verlassen, während er in amerikanischer Gefangenschaft saß. Dann, entlassen, der Heimat und aller Herrlichkeiten des einstigen Adelslebens beraubt (das vor allem in harter landwirtschaftlicher Arbeit bestanden hatte), fing er ganz von unten wieder an. Er trug "Wild und Hund" aus, bastelte aus bemalten Tannenzapfen Weihnachtsmänner für den Verkauf und tat und ertrug auch sonst viele Dinge, die den einstigen Generalstabsoffizier hart angekommen sein müssen.

Aber nie, nicht ein einziges Mal, habe ich von ihm auch nur ein Wort der Klage gehört, nicht über den Verlust der Heimat, nicht über die im Kriege gebliebenen zwei Söhne. Er biß die Zähne zusammen und tat seine Pflicht und schuf seiner Frau und seinen drei überlebenden Kindern im rheinischen Westen, wohin sie die Flucht schlußendlich verschlagen hatte, ein neues Zuhause. 1952 konnte er schon wieder ein Haus kaufen, zehn Jahre später folgte ein zweites, größer noch als das vorherige.

Er war ein einfacher Mann; einfach in dem Sinne, daß er keinen Sinn für intellektuelles Origami oder den Weltschmerz wohlstandsverwöhnter Berufssöhne besaß. Auch blieb ihm deshalb der im Rheinland übliche Gefühlsüberschwang immer rätselhaft; der lauten Deklamation zog er immer die stille, aber anhaltende Freude vor.

Zuverlässigkeit, Treue, Ehre, Loyalität, von großer Sparsamkeit und noch größerer Generosität, war ihm einer, wenn nicht der wichtigste Leiststern in seinem Leben neben dem christlichen Glauben die Gestalt des Alten Fritzen. Der Preußenkönig war ihm sein ganzes Leben lang ein verehrtes Vorbild, auch mein Großvater lebte immer nach dem Moltke-Motto "mehr sein als scheinen".

Zu seinem 90. Geburtstag schenkte ich ihm zwei Bücher, die Friedrich der Große geschrieben hatte, die "Geschichte meiner Zeit" und die "Geschichte des Hauses Hohenzollern". Er war davon seltsam gerührt. "Die anderen", meinte er betrübt in einem Moment, in dem wir allein miteinander waren, "die anderen schenken mir nur noch Präsentkörbe und Wein, weil sie glauben, längerfristige Investitionen lohnen sich bei mir nicht mehr".

Auf seinem Schreibtisch stand eine kleine Figur, die Nachbildung eines Denkmals für Friedrich II., beinah das einzige sichtbare Zeichen für dessen Verehrung. Und als mein Großvater ans Sterben kam, da wollte ich von ihm zur Erinnerung nichts als ebenjene kleine Statuette des Alten Fritzen. Denn, wie ich gestehen muß, auch ich kann dem Hohenzollern einiges abgewinnen, und die Figur hätte dem genauso Ausdruck verleihen wie sie mich auch als bleibendes Andenken an meinen Großvater durchs Leben begleiten können.

Doch des Großvaters Sohn und zugleich mein Onkel nahm die kleine, wohl um 1900 aus Gußeisen gefertigte Figur an sich und erklärte mir kühl, die sei nicht für mich bestimmt, ich hätte zu warten. Und all die Jahre wurmte mich das und machte mich traurig, daß der Onkel, hochvermögend und Stütze der Gesellschaft, sich hier so kleinlich zeigte und Großvaters Figur an sich nahm - nicht, auf daß sie etwa seinen Schreibtisch ziere, sondern nur sein Eigentum sei.

Und nun, 32 Jahre später, nachdem sich auch der Onkel zu seinen Vätern versammelt hat, bin ich zur Tante, seiner Witwe, gegangen und habe ihr die Geschichte erzählt. Und sie wunderte sich und meinte, das verstehe sie nicht, daß der Onkel mir dieses mir so teure Erinnerungsstück so lange vorenthalten habe. Und beim nächsten Besuch stand auf der Kaffeetafel besagte Statuette, von der Tante kommentarlos an meinen Platz gestellt. Jetzt steht der Alte Fritz, gußeisern und abgesehen von ein bißchen Flugrost bis heute unbeschädigt, auf meinem Schreibtisch, um mir die Tugenden des Menschen genauso wie seine Fehlerhaftigkeiten im Gedächtnis zu halten.






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