Schon die Anfahrt ist nicht besonders angenehm. Samstag Abend mit der natürlich verspäteten S-Bahn von einem Vorort ins Zentrum Kölns ist nicht gerade das, was man als kultivierter Mensch gerne unternimmt. Der ganze Zug ist umfunktioniert zu einer Art Landjugendtransporter, voller feierwütiger Dorfbewohner und "Jungesellenabschiede" beiderlei Geschlechts, die hier schon mal ordentlich vorglühen und den aktuellen Füllstand an Lautstärke und Frequenz ihres Gekreischs erkennen lassen.
Am Bahnhof angekommen, ballen sich unübersehbare Mengen von Reisenden, Touristen, Pistengängern; am Haupteingang steht eine Gruppe betrunkener Punks, die sich einen Spaß daraus machen, besonders ältere Passanten zu berüpeln, zu stoßen oder ihnen ein Bein zu stellen und sich herzlich über Gestolper und Stürze zu freuen.
Ich aber lasse das alles hinter mir, streife den den Gestank und den Schmutz und den Lärm ab, per aspera ad astra, denn ich gehe ins Konzert, auf das ich dreiundzwanzig Jahre gewartet habe, nachdem ich es das letzte Mal verpaßt habe, verpassen mußte.
Denn als im September Neunzehnhundertsechsundachtzig nach vielen Streitereien und Verzögerungen endlich Kölns neuer Konzertsaal, die Philharmonie, eröffnet wurde, saß ich in Rom und schwitzte. Nicht so wegen der Temperaturen, sondern über einem Sprach- und Eignungstest, dessen erfolgreicher Vollzug die Bedingung für die Einschreibung an einer italienischen Universität war. Und an genau diesem Tage, am 14. September, wurde in dem großen Rundbau mit der bestechenden Akustik Mahlers achte Sinfonie Es-Dur aufgeführt, die Sinfonie der Tausend, wie sie schon zu Mahlers Lebzeiten genannt wurde (dies durchaus zum Mißvergnügen des Komponisten, der darin nur die Herabwürdigung seines Werkes zu einer Zirkusnummer sah). Und ich konnte nicht dabeisein, ich hatte eine Karte, die ich weitergegeben hatte an jemanden mit mehr Zeit als ich und der vor allem überhaupt in der Stadt war. Und ich dachte, irgendwann wirst du schon noch dazu kommen, wenn dieses monströse Ding auch nicht gerade jedes Jahr aufgeführt wird, dafür ist der Vorlauf viel zu umständlich, Chöre (jetzt in Köln fünf!) müssen koordiniert werden, ein gemeinsamer Termin will gefunden sein, geprobt muß auch werden, ein aufgestocktes Orchester gehört dazu, selbst Gustav Mahler brauchte drei geschlagene Jahre, bis er seine Weltsinfonie schließlich zur Uraufführung bringen konnte.
Und so gingen die Jahre dahin und ich dachte nur ab und an, wie schön es doch hätte sein können und wie schön es sein werde, wenn ich endlich… dann fiel mir eine kurze Notiz in der Zeitung auf und ich kaufte sofort und ohne zu überlegen Karten, denn dieses Stück bekommt man wirklich nicht allzuoft im Leben zu hören.
Und dann sitze ich gestern im proppvollen Haus, ausverkauft, Kunststück bei nur zwei Konzerten, alles Leute, die wissen, welcher Rarität sie hier beiwohnen, und ich sitze mitten unter ihnen, freudig erregt wie der sprichwörtliche kleine Junge im Bonbonladen und das Orchester und der Riesenchor beginnen und toben, stürmen, schreien, lachen, tanzen sich und uns allesamt durch magische und unglaubliche anderthalb Stunden und dann klatschen alle, Beifall, Applaus, Bravo, da capo, niemand will gehen, jeder will die Magie des Augenblicks noch ein wenig verlängern, alle stehen und applaudieren und manche haben eine kleine Träne im Auge, genauso wie ich, mit feuchten Augen stehe ich da und schlage die schmerzenden Hände ineinander, denn ich habee vor lauter Schönheit geweint.
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