Ach, den Thomas wollte ich doch immer noch einmal anrufen... warum nicht jetzt? Geht nicht, ich hab doch diese Terminsache, da habe ich den Kopf nicht frei. Und nächste Woche? Da muß ich auf die XYZ-Messe und alle möglichen Termine abhaken.
Und so: wochenlang. Und Monate. Und natürlich habe ich nicht angerufen. "Laß uns doch noch mal um die Häuser ziehen", hatte er gesagt, "so wie damals". Damals, als er heiraten wollte und Lust hatte, mit ein paar Freunden am Vorabend der Hochzeit so richtig einen draufzumachen (damals nannte man das noch nicht "Junggesellenabschied"). Und wir redeten und soffen und sangen und lachten und haben bestimmt die eine Oma oder den anderen Touristen erschreckt, aber wir waren ganz harmlos. Denn Thomas wollte ja heiraten. Und am nächsten Morgen standen wir im Kölner Dom und die Braut war sehr schön und Thomas platzte vor Stolz und Freude und Hoffnung und ich war Trauzeuge.
Nächste Woche, da ruf ich ihn an, hat schon viel zu lang gedauert, was seine Frau wohl macht und die Kinder...
Dünn wie ein Nagel war war er vor 30 Jahren, als er plötzlich den Arbeitgeber wechseln mußte. Mit dem alten war er nicht zurechtgekommen, der hatte ihm eine Schicht nach der anderen aufgedrückt und schließlich war es Thomas zu bunt geworden und er hatte nein gesagt. Was erst in einen heftigen Disput mit dem Arbeitgeber mündete und dann in einem Aschenbecher, den Thomas nach dem Chef geworfen hatte. Danach konnte er sich seine Papiere abholen. Geschadet hat es ihm nichts, er fand beinah sofort eine neue Stelle, im alten Beruf, aber schnell stieg er auf und wurde Geschäftsführer. Seitdem nahm er stetig zu und wirkte ungeheuer seriös, staats, wie wir Kölner sagen. Wenn wir uns begrüßten, knuffte er mich trotzdem in die Seite und sagte: "Sollen wir nicht mal wieder...?". Haben wir aber nicht. Entweder hatte er keine Zeit oder ich oder wir beide nicht. Ich wollte ihn anrufen, um ihn und seine Frau endlich mal einzuladen, sonst wird ja nie was draus. Wie dieser blöde Musikerspruch "laß uns mal was zusammen machen". Soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Ein schöner Abend, gemeinsam kochen, der gemeinsamen Leidenschaft für Italien, seiner Küche und seiner Weine frönen.
Heute morgen ist Thomas gestorben. Gestern abend hat er wohl noch gesagt, er fühle sich nicht so gut, drum ist er früher zu Bett gegangen. Er ist nicht mehr aufgewacht, der Herzinfarkt hat ihn im Schlaf getroffen. Er ist 53 Jahre alt geworden.
Wenn ihr Freunde habt, schon lange aus den Augen verloren: ruft sie an. Heute. Jetzt. Redet mit ihnen. Ihr wißt nicht, wie lange noch jemand diesen Anruf beantwortet.