Mittwoch, 30. Juli 2008
Der Tod

...kommt zu manchen als gefürchteter Feind, zu manchen als der erwartete Schnitter und zu manchen als gerechter Vollender. Zur Tante kam er auch und brachte ihr nach der Weisheit, man stürbe, wie man gelebt habe, einen langen und quälenden Tod. Sie war eine böse Frau gewesen, immer, Zeit ihres Lebens. Begabt, intelligent aber all das in einer Zeit, als Frauen aus guter Gesellschaft sich zumeist noch in ihre Rolle als Zierrat für den erfolgreichen Ehegatten begnügten und all das Talent, die Kraft, nach innen wuchs, sich verformte und schließlich bösartig wurde. Alles für den Onkel, Bruder meines Vaters, des vielgeliebten und viel, viel zu früh gestorbenen. Was der Onkel als mahnendes Zeichen nahm und durch übertriebene Hypochondrie wieder ausglich, immerhin, das fünfundachtzigste Lebensjahr hatte er erreicht, doch alle Tropfen und Tinkturen und Pillen und Tabletten und Ärzte und Kliniken vermochten es nicht, ihn, den einst mächtigen Verbandslenker, vor der Blindheit zu bewahren und so verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens ohne das Licht seiner Augen, die ebenso blau gewesen waren die meines Vaters, in völliger Finsternis und Abhängigkeit. Und in Angst, Angst vor seiner Frau, der Tante. Die Tante war eine böse Frau, überforderte jeden mit ihrer Erwartung und dann, nach kurzer Zeit, mit ihrer Verachtung, verachtete ihren Mann schon früh, nahm sich einen, anderen, der ihr ein Kind machte. Der Onkel fügte sich seufzend ins Schicksal und suchte, das Kuckuckstöchterlein wie das eigene, zwei Jahre danach geborene, zu lieben. Aber größer als die Liebe war die Schwäche in ihm und so fügte er sich und behandelte das eigene Kind wie die Tante, als ungewolltes, verhärmtes Nesthäkchen, ewige Zweite. Zurücksetzungen, Demütigungen, auch und gerne in aller Öffentlichkeit, und trotzdem versuchte die jüngere, die ungeliebte Tochter, ihr Leben lang oder das Leben der Tante lang deren Liebe zu erringen. Doch ohne Erfolg. Die andere, die erste, die Geliebte, Strahlende, floh früh in den Süden, ließ alles hinter sich, den Namen, die Staatsbürgerschaft, sie heiratet begütert und kam nie mehr zurück. Übrig blieb die Tante, die jetzt nur noch den Onkel quälen konnte, ihm seine Schwäche vorhielt, seine zunehmende Pflegebedürftigkeit, und als sie sich immer mehr dem Alkohol hingab, wurde sie auch gefährlich, warf zuweilen mit schweren Gegenständen nach ihm, die ihn glücklicherweise immer verfehlten, wie er einmal angstvoll flüsternd am Telefon zu berichten wußte. So gingen die Jahre dahin und schließlich starb der Onkel und ließ die Tante allein zurück, die schon vorher allein gewesen war und es jetzt erst recht wurde, weil sie alle, alle, Bekannte, Freunde, Verwandte von sich stieß und es vorzog, allein im stillen, große Haus zu sitzen, die Schlechtigkeit der Menschen zu beklagen, während einsamer Abende bei teurem Cognac und den zahllosen, vom Onkel während der gemeinsamen Urlaubsreisen gemachten Filmen.

Bis die Tante tot war und beide Kinder noch einmal in das von der Tante geplante Haus in dem riesigen Garten zurückkehrten. Den Garten, den die Tante geliebt hatte (fast möchte man sagen, als einziges), und der wie das Haus Theater und Bühne für die Kindheit der beiden Töchter gewesen war, die jetzt in dem aufgelassenen Haus saßen und über die Aufteilung stritten, so wie sie immer schon gestritten hatten, über Zuständigkeiten, Schulden, Hypotheken (die Tante hatte die letzten zehn Jahre ihres Lebens und das noch vorhandene Vermögen mit Dutzenden von sündteuren Kreuzfahrten durchgebracht) und den Wert des Hauses. Und damit meinten sie nicht den Wert, den ein solches Haus für mich haben würde, als Ort der Erinnerung, sondern als kühl zu kalkulierende Immobilie. Und schon bald strich der erste Makler durch die Räume, die noch die Luft der Tante atmeten, durch die Küche, wo noch der frisch aufgefüllte Zuckerstreuer stand, durchs Schlafzimmer, in dem das noch bezogene und vom letzten Schlaf verwühlte Bett stand.

Und ich stand auf der Terasse, die so winzig und so anders war als in meiner Erinnerung, damals, vor fast vierzig Jahren, als ich als kleiner Junge schlaftrunken in der Abenddämmerung zu meinem Vater tappte, der dort mit seinem Bruder und der Tante und natürlich meiner Mutter seinen Geburtstag feierte, in einer wunderbaren, warmen und leuchtenden Julinacht, während die Kerzen brannten, und eine Woche später war mein Vater tot. Ich stand auf der Terrasse und blickte in den Garten, der Zeit seines grünen Lebens eher eine üppig angelegte Parklandschaft gewesen war, voller Bäume und Sträucher und Stauden und Sommerblumen, einer augen- und nasenbetäubende Pracht, die die Tante zeitig im Frühjahr in den eigens dafür hinterm Haus errichteten Gewächshäusern vorzog, um sie dann über das ganze Grundstück zu verteilen, dieser Garten war jetzt, in diesem Sommer nur noch ein ungepflegter und struppiger Schatten der einstigen Herrlichkeit, am Ende hatte die Tante keine Kraft mehr gehabt und der Gärtner hatte zwar das Geld genommen, aber keine Arbeit mehr gegeben.

Und auch wenn der Tod als gerechter Schnitter kommt und das Leben so angemessen beendet, wie es gewesen ist, als ein Leben, das immer schon tot gewesen war, die Rechnungen werden nie alle beglichen, ein paar, wenn nicht die meisten, bleiben offen und unbezahlt. Und daran wird auch der Verkauf des Grundstücks in bester, unverbaubarer Lage am Hang nichts ändern, in das sich schon bald, nach kurzer Zeit, die Bagger wühlen werden.


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